Atlas der Umweltmigration

Sybille Bauriedl
Rezension:
Atlas der Migration, herausgegeben von Dina Ionesco, Daria Mokhnacheva, François Gemenne, Oekom Verlag, Mai 2017, 176 Seiten, 22,– Euro


Umweltmigration ist ein politisch umkämpfter und wissenschaftlich umstrittener Begriff. Handelt es sich bei der Umweltmigration um internationale Wanderungsbewegungen auf Grund des Klimawandels oder um eine kurzfristige, reaktive Flucht vor Extremwetterereignissen in eine Nachbarregion? Sind allein Umweltbedingungen die Ursache oder spielen andere Faktoren eine Rolle? Die Antworten auf diese Fragen, wie auch der Begriff selbst haben entscheidenden Einfluss sowohl auf im Umgang mit Umweltveränderungen, mit Migrationsmotiven, wie auch mit den Migrant_innen selbst. Genauso problematisch sind die Begriffe „Klimaflucht“, „klimawandelinduzierte Migration“, „umweltbedingte Vertreibung“ usw.
Die Migrationsdebatte verfällt allzu oft in einen diffusen Umwelt- und Geodeterminismus. Auffällig ist, dass Umweltmigration fast ausnahmslos ein Problem des Globalen Südens zu sein scheint. Obwohl der Meeresspiegel weltweit ansteigt, gelten nicht sämtliche Bewohner_innen von küstennahen Tiefländern als potenziell gefährdet. Offenbar wird stillschweigend davon ausgegangen, dass in wohlhabenden Volkswirtschaften Ressourcen zur Anpassung an den Klimawandel vorhanden sind. Ein deutliches Indiz dafür, dass es sich um keineswegs ausschließlich ökologische Probleme handelt.
Der Begriff Umweltmigration ist aus diesem Grund oft kritisiert worden. „Umweltmigration“ suggeriert, dass die Umwelt maßgeblich für die Vertreibung und Flucht von Menschen verantwortlich ist und blendet die gesellschaftlich hergestellten Migrations- und Fluchtursachen aus. Das Denkmodell der Umweltmigration nimmt nur Push-Faktoren in den Blick und ignoriert Anreize, die mit den Zielorten verbunden werden, z.B. zunehmendes internationales Wohlstandsgefälle. Global betrachtet führen wahrscheinlich mehr Wanderungen hin zu ökologischen Problemgebieten als fort von dort, wie die Land-Stadt-Wanderung in überschwemmungsgefährdete Küsten- und Megastädte in China und Indien.
Migrationsgründe und -entscheidungen sind sehr komplex. Der „Atlas der Migration“ schafft es, mit seinem umfangreichen Kartenwerk und begleitenden ein- bis zweiseitigen Texten, die vielfältigen Ursachen und Zusammenhänge zu veranschaulichen (das Format lehnt sich an den bewährten „Atlas der Globalisierung“ von Le Monde diplomatique an). Der Atlas thematisiert Migration nicht nur als erzwungene Reaktion und als Alarmsignal in Zeiten des Klimawandels. Er zeigt Migration wird auch als freiwillig gewählte Strategie der Anpassung an veränderte Lebensbedingungen. Außerdem wird deutlich, dass Umweltmigration nicht zwangsläufig zu Konflikten und Krisen in den Zielländern führt. Mit dieser Argumentation positionieren sich die Herausgeber klar im Feld des Sicherheitsdiskurses, der Abschottung gegen und der Viktimisierung von Menschen, die von Umweltbelastungen betroffen sind.
Herausgeber des Atlas der Umweltmigration sind die kirchlichen Hilfswerke Brot für die Welt und Misereor in Zusammenarbeit mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Leittragende des Klimawandels und anderer globaler Umweltveränderungen „sind oft die ohnehin Armen und Marginalisierten in den sogenannten Entwicklungsländern“ schreiben die Herausgeber in ihrem Vorwort. Sie verstehen damit Klimawandel nicht als die Hauptursache von Migration, jedoch als Verstärker von Migrationsmotiven, die auf sozialer Ungleichheit beruhen. Das Engagement der Hilfswerke zielt auf die kurzfristige humanitäre Hilfe und zusätzlich fordern sie eine verlässliche, langfristige finanzielle Unterstützung der betroffenen Länder durch die Regierungen der Industrieländer. Anstatt Abschottung Europas gegen Flüchtende „muss Migration als legitime und in vielen Fällen existentielle Überlebensstrategie akzeptiert und ermöglicht werden.“ Diese Aussage – nicht die Flüchtenden sind das Problem, sondern die ökologische und die soziale Situation in der sie leben – untermauern die Themenbeiträge des Atlas der Migration. Diese zeigen, dass sich hinter dem Begriff „Umweltmigration“ unzählige verschiedene Dynamiken verbergen. Und sie verweisen auf das Phänomen der erzwungenen Immobilität, die in Zeiten des Klimawandels zu zunehmend hohen Todesopferzahlen geführt haben.


Der Atlas ist in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil werden die vielfältigen Formen von Migration erklärt und Prognosen der Umweltmigration in Karten vorgestellt. Der zweite Teil stellt aktuelle Phänomene globaler Umweltveränderungen und deren negativen Auswirkungen auf menschliche Lebensbedingungen dar. Im dritten Abschnitt werden soziale und ökologische Ursachen aktueller Migrationstrends erklärt. Der vierte Abschnitt verdeutlicht die Möglichkeiten und Schwierigkeiten politischer Lösungen bei der Reduktion erzwungener Migration. Der Atlas schließt mit einer umfangreichen Literaturliste und einem Glossar.
Der Atlas der Umweltmigration ist das bisher umfangreichste Kartenwerk mit allgemeinverständlichen Erläuterungen in deutscher Sprache. Die Karten und Texte basieren im Wesentlichen auf aktuellen Daten der Internationalen Organisation für Migration, die durch Studien weiterer Institutionen der Migrationsforschung ergänzt werden. Die Karten zeigen globale, regionale, nationale und lokale Migrationspfade temporärer, saisonaler und dauerhafter Migrationsformen und unterscheiden hydrologische Gefährdungen (Überschwemmungen), geophysikalische (Erdbeben, Tsunamis), meteorologische (Hitzewellen, Wirbelstürme), klimatische (Dürren) wie auch technische Gefährdungen (Industrieunfälle, Verschmutzung, Staudamm-, Straßen-, Bergbau) sowie Folgen zerstörter Ökosysteme (Gletscherschmelze, Entwaldung, Bodendegradation, Überfischung).

Vorwort abrufbar beim Oekom-Verlag

Siehe auch Carsten Felgentreff: Klimaflüchtlinge. In: Wörterbuch Klimadebatte, S. 141-148.